Generationslast aus der Geschichte
Die Opferlast der Eltern
Meine Eltern sind in einer mörderischen und verführerischen Gesellschaft aufgewachsen. Sie hätten etwas Besseres verdient! Ich beginne zu erspüren, was sogar bei mir davon fühlbar ist. Bei mir, ihrer Tochter, und schon eine Generation weiter. Ich beginne, die Generationslast aus der Geschichte bei meinen Eltern zu sehen. Zunächst sehe ich ihre Last als Opfer eines mörderischen Systems.
Die Generationslast aus der Geschichte blieb mir lange verborgen
Dieser Schritt beginnt auf der Rückkehr von einem Seminar in der Fortbildung zum ifs-Coach. Es geht um Trauma und Traumabearbeitung. Auf der Heimfahrt kann ich quasi zuschauen, wie der Groschen pfennigweise fällt. Kann es sein…. kann es sein, dass ich mit Menschen groß geworden bin, die in ihrem Leben ein Trauma durchlebt haben? Etwas in mir sagt: Natürlich, wie blöd kann man sein….? In meinem Kopf war der Gedanke immer schon denkbar. Der Unterschied jetzt ist, dass diese Möglichkeit eine Empfindung in meinem Körper auslöst. Aus dem ifs weiß ich: Da fühlt sich eine Erfahrung angesprochen … und beginnt zu antworten.
Großwerden mit Bomben und Verlust: Generationslast meiner Mutter
Welche Spuren hat die Erfahrung des Krieges bei meiner Mutter hinterlassen? 1939 war sie 14, 1945 wurde sie 20. Meine Mutter erinnert die Bombennächte im Keller und dass sie sich vorgenommen hat, ihr Herz an keinen Jungen zu vergeben, die im Krieg verschwanden.
Erwachsenwerden mit dem Töten und Sterben: Generationslast meines Vaters
Mein Vater ist mit 16 zur Polizei gegangen und wurde von dort eingezogen. Von 1942 bis Kriegsende war er Soldat an der Ostfront. Über das Regiment meines Vaters gibt es, so erfahre ich jetzt, ein Buch[1]. Drei Dinge aus dieser Lektüre brennen sich mir ein: Ein Leben im Dauerstress im Schützengraben. Kameradschaft erleben oder untergehen. Eine gnadenlose entweder-oder-Situation. Und das über Jahre. Zum Schluss verfranselt das Buch in lauter einzelne Begebenheiten, von denen die Überlebenden noch berichten konnten. Ein Regiment gab es da schon nicht mehr, es war aufgerieben und zerrissen im dauernden Rückzug.
Der Vorhang hebt sich – die Generationslast wird spürbar
Mein Vater erzählte nicht viel und Verschiedenes an verschiedene Leute über den Krieg. Eine Erzählung geht so: Er habe als MG-Schütze immer über die Köpfe der Angreifer hinweg geschossen. Nach der Lektüre der Regimentsgeschichte begreife ich, dass das nicht stimmen kann. Das hätte er nicht überlebt und die Kameraden auch nicht.
Und dann kommt der Abend, an dem bisherige blinde Flecken einer Erkenntnis weichen, die mich zutiefst erschreckt. Ich schaue mal wieder in das Soldbuch meines Vaters. Schon seit vielen Jahren hatte ich es immer mal wieder in der Hand und drin geblättert und gelesen. An diesem Märzabend, es ist der 10.3.2017, schaue ich es mir wieder an. Ich lese mal wieder, dass es einen Nahkampfeintrag vom 11.3.1943 gibt.
Der 11. März, das ist der Geburtstag meines Vaters! Das war sein 20. Geburtstag!
Nahkampfeintrag!
Das heißt, er hat an diesem Tag aus nächster Nähe einen anderen Soldaten getötet. Da ist er 19, wird gerade 20! Männer mit 19 – das sind für mich große Jungen! Spüren, was man liest ist was anderes als lesen und nix verstehen…
Die Generationslast wird in den eigenen Knochen spürbar
Der nächste Morgen ist der Geburtstag meines Vaters und der Jahrestag dieses Ereignisses. Damals hieß es für ihn: Er oder ich.
Ich sitze an diesem Tag beim Frühstück und denke: Ohne das Töten meines Vaters an diesem und an späteren Tagen säße ich jetzt nicht hier… Wie kann es sein, dass ich das wieder und wieder gelesen habe und nichts dabei gefühlt habe? Nun sitze ich da und bin ein bisschen zittrig. Denn um ein Haar hätte es mich gar nicht gegeben. Und auch mich gibt es nur deswegen, weil es die Kinder des russischen Soldaten nicht geben konnte, den mein Vater getötet hat.
Jede Generation trägt ihre eigene Last – und verdient Mitgefühl dafür
Überrascht stelle ich in der Folgezeit fest, wie sich meine Perspektive auf die Generation meiner Eltern verändert. Ich sehe sie immer mehr als die Heranwachsenden, die sie damals waren. Als junge Leute, die in diesem Irrsinn irgendwie überleben wollten. Ich sehe mich weniger als das Kind dieser Personen, sondern als die Erwachsene, die ich jetzt bin. Mit den jungen Leuten von damals habe ich ein großes Mitgefühl.
Nun will ich genauer wissen, wo mein Vater war.
Ich recherchiere nach seiner Einheit und besorge mir die Regimentsgeschichte, in der Hoffnung, irgendwas – ja was? – zu finden.
Dann starte ich eine Nachfrage bei der Wehrmacht-Auskunftsstelle nach den Aufenthaltsorten meines Vaters im Krieg. Das hatte ich „eigentlich“ schon immer vorgehabt, mich aber nie getraut. Nun ist es so weit, ich kann es tatsächlich tun, denn nichts in mir schiebt das immer wieder auf.
Heute, mehr als zwei Jahre nach dieser Aktion, warte ich immer noch auf Antwort. Die Zahl der Nachfragen sei immer noch immens hoch, erläutert man mir im Bundesarchiv, das diese Nachforschungsaufgabe übernommen hat. Mich wundert das nicht.
Der Generationslast ins Auge sehen – Respekt erweisen durch Erinnern
Die Anfrage bei der WAST (Wehrmacht-Auskunftsstelle) gibt mir das Gefühl, dass ich im Erinnern meinen Respekt bezeugen kann. Wenn irgendwann die Antwort kommt, dann kann ich bezeugen, dass auch ich weiß, was geschehen ist: Gegenüber meinem Vater, aber auch denen gegenüber, die durch seine Hand umkamen und nicht wieder nach Hause kamen, um eine Familie zu gründen…
Ich kann deren Ausweglosigkeit besser nachfühlen und beginne tiefer zu verstehen, wie viel Lebenskraft und Lebenschancen sie in dieser Zeit verloren haben.
Generationslasten in sich selber entdecken und sie ablegen
Die Löcher im eigenen Leben schließen
Ja, meine Eltern hätten ein Land ohne Krieg und ohne Holocaust gebraucht und verdient. Was für ein anderes Leben hätte das sein können! Wie sich ein Land ohne Krieg anfühlt, das nehme ich aus einer „Pesso“-Strukturaufstellung mit[2]. Das ist eine – in meinem Fall – äußerst schnell wirksame und nachhaltige Form, um das im Körper gespeicherte Wissen für Problemlösungen zu nutzen. In diesem Fall führt mich mein Körperwissen an den Punkt, an dem Lasten meines Vaters zu meiner wurden.
Der Körper erkennt die Generationslast
Auf diese Körperarbeit werde ich – zufällig und offenbar für diesen Schritt gerade rechtzeitig – aufmerksam, als ich das Buch von Bessel van der Kolk[3] lese. Das ist ein Traumaforscher in den USA, Sohn eines holländischen Widerstandskämpfers. Bei dem Versuch, Menschen von ihren Traumata zu befreien, hat er immens viel ausprobiert. Dafür überspringt er als Mediziner furchtlos Standesschranken und folgt jedem Pfad, der Erfolg verspricht. Das führt ihn auch zur Pesso-Therapie, benannt nach dem Gründer dieser Therapiearbeit. Van der Kolks Buch „Der verkörperte Schrecken“ hat zwar einen furchtbaren Titel, aber eine äußerst wohltuende Botschaft. Denn selten las ich von einem Fachmann ein heilsameres (und einfach zu lesendes!), mitfühlenderes und hoffnungsvolleres Buch über den Umgang mit belastenden Erfahrungen.
Als ich dort die Seiten über die Pesso-Strukturaufstellungen lese, komme ich mir vor, als sei ich mittendrin. Für mich ist das immer ein Zeichen, dass das für mich passt. Acht Wochen später habe ich einen freien Platz in Freiburg ergattert und kann mitmachen. Einen Tag beschnuppere ich Gruppe und Therapeutin, und am zweiten Tag darf ich mit meinem Thema den noch freien Platz in der Mitte einnehmen. Da mein Inneres sich einen Tag angeguckt hat, wie das hier alles so abläuft, kommt in der Sitzung ein Thema auf den Tisch, von dem ich nicht wusste, wie sehr es mir, der Tochter, noch in den Knochen steckt.
Wie die Generationslast der Eltern versorgt wird…
An diesem Tag geht es vor allem um die Belastungen und die Beschränkungen meines Vaters. Sein gesamter Lebensweg war eingezwängt in die aufgewühlte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Oberschlesien. Selber eigentlich noch ein Schulbub, wird er Soldat. Danach ist er ein Flüchtling, lange Jahre ohne Bindung an seine „kalte Heimat“. Eigentlich hatte er etwas ganz anders aus seinem Leben machen wollen. …
Das Bild vom Land ohne Krieg löst in mir ein inneres Erdbeben aus. Was alles hätte sein können! Was für eine Weite und Freiheit – und wie heilsam. Ich gönne ihm das. In meinem Inneren setze ich meinen Vater in dieses Land.
…eine alte Wunde aus der Generationslast schließt sich…
Begeistert und erleichtert stelle ich in dieser Sitzung fest, dass sogar noch hier und heute für die vorangegangenen Generationen gesorgt werden kann. Und dann kann ich diesen inneren Sack zubinden. Denn es ist nicht meine Angelegenheit. Es ist, als schließt sich eine bis dahin offene Wunde. Vielleicht habe ich als Kind die Traurigkeit meines Vaters gespürt und wollte doch, dass er froh ist. Was man sich als Kind halt so vorstellt…
An diesem Tag jedenfalls bekommt meine Erinnerung an meinen Vater und seine Bürde eine neue gespürte Erfahrung an die Seite gestellt. Nämlich wie es gewesen wäre, wenn für ihn rundum gut gesorgt worden wäre, von seiner Familie, von seiner Gesellschaft – aber nicht von mir! Und wie er sich als junger Mensch entsprechend seiner Fähigkeiten hätte entfalten können, ohne die Erfahrung mit Krieg und Holocaust machen zu müssen. Ohne diese Erfahrungen hätte er eine viel entspanntere und lebensfrohere Vaterrolle leben können als es ihm tatsächlich möglich gewesen war.
… und bringt nachhaltige Entlastung für mich selber
Danach erlebe ich mich auf Dauer entspannter. Ein Stück meiner Familiengeschichte fühlt sich anders an, irgendwie besser sortiert. Es ist so, als würden die Aufgaben meiner Eltern klarer bei ihnen und meine klarer bei mir sein. Ich kann besser anerkennen, dass da Grenzen bei meinen Eltern waren, dass manches nicht gepasst hat, wie ich es gebraucht hätte. Gleichzeitig wird mein Blick auf die Generation meiner Eltern mitfühlender.
Ich werde nie begreifen können, welche Traumatisierungen ein durchlebter Krieg für die Betroffenen bedeutet. Aber es wird mir immer klarer, dass das hier keine individuelle Aufgabe ist.
Was ist meine Generationslast?
Bettina Alberti [4] spricht in ihrem Buch „Seelische Trümmer“ so schön von dem Seelenraum, den diejenigen verschlossen, die den Krieg erlebt hatten. Sie schreibt: „Die Kriegstraumatisierung dieser Zeit brachte viele Eltern dieser Zeit dazu, der Seele ihrer Kinder nicht begegnen zu können, was bei diesen Selbstverleugnung, Einsamkeit und Lebensangst bewirkte.“ (Alberti, S. 10f.) Das finde ich ein passendes Bild für diese tragische Situation zwischen diesen beiden auf einander folgenden Generationen. Alberti unterstreicht, welche immense Bedeutung das für eine Gesellschaft hat.
Wieso das Spüren so wichtig ist
„Die Sprache der Seele will wiedergefunden, der innerseelische Krieg beendet werden“, schreibt Alberti (S. 12). Der Schlüssel dazu ist das Spüren können bzw. das-wieder-spüren können. Alberti unterstreicht, wie wichtig das ist: „… Ohne selbst zu fühlen können wir nicht mitfühlen. Menschen, die sich selbst seelisch betäubt und innerlich leer erleben, können nur schwer spüren, was andere emotional bewegt.“ (S. 109).
Erst allmählich begreife ich, dass es genau das ist, was mich auf meinem inneren Weg führt. Da ist etwas in mir, das sich spürend, mitfühlend und – wissend – fortbewegt. Diese Etappe lehrte mich, dass dieses Wissen Generationen umfasst.
Die Generationslast der Täterschaft wartet auf mich
Jedenfalls bin ich sehr froh über die Verbindung, die ich zum Schicksal meiner Eltern gefunden habe. Andererseits schäme ich mich fast dafür. So, als sei es mir als Deutscher verboten, mich dem Opfersein der Elterngeneration mitfühlend zuzuwenden – ohne sofort zu unterstreichen, dass damit der Holocaust nicht relativiert werden soll. Es gibt da so etwas wie ein schlechtes Gewissen darüber, dass sich mein Mitgefühl zunächst den Menschen zugewandt hat, die mir am nächsten stehen. Dazu kann ich in diesem Moment nur sagen, das ist jetzt so.
Gleichzeitig bemerke ich Unruhe in meinem Inneren. Monatelang rumort es dort, und es wird immer deutlicher: In meinem deutschen Erbe steckt noch mehr. Doch das, was gesehen werden will, muss sich seinen Weg noch bahnen.
Das, was in mir rumort, hat offensichtlich ein sehr heißes Eisen angefasst. Schlechte Laune und böse Vorahnungen kreisen dort, aber nichts wird greifbar. Damit ich das besser verstehen und damit umgehen kann, braucht mein Verstand jedoch eine Möglichkeit, dieses Vage in Worte zu fassen. Gespräche mit zwei Menschen bahnen schließlich den Weg. Dieser führt mich an den Ort, wo in meinem Inneren Auschwitz ist.
Die bisherigen Etappen im Überblick
Entspannteres Deutschsein. Ein Reisebericht in Etappen: Einleitung
Identität und Deutschsein: Etappe 2
Deutschsein mit Composite Heritage erkunden: Etappe 2
Ankommen in der eigenen Geschichte: Etappe 3
Literatur:
Bettina Alberti/Anna Gamma, Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren; die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, 7. Aufl., München 2014.
Bessel A. van der Kolk, Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, 3. Auflage, Lichtenau Westf. 2016.
Die Geschichte eines Infanterieregimentes 1939-1945, herausgegeben von W. Schmidt 1961.
http://www.pesso-institut.de/ zur Pesso-Arbeit.
[1] Die Geschichte eines Infanterieregimentes 1939-1945, herausgegeben von W. Schmidt 1961.
[2] Barbara Fischer-Bartelmann, Pesso-Therapeutin. Näheres zur Pesso-Strukturarbeit s. www.pesso-seminare.de
[3] Bessel A. van der Kolk, Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, 3. Auflage, Lichtenau Westf. 2016.
[4] S. dazu Bettina Alberti/Anna Gamma, Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er-Jahren; die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, 7. Aufl., München 2014, S. 10f:
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