Deutschsein mit Composite Heritage erkunden

Mein Deutschsein mit Composite Heritage erkunden – dazu bot mir ein Workshop1 einen ersten sicheren Raum. Voller Überraschung lernte ich vor allem meine Widerstände gegen diesen Teil meiner Identität kennen.

Selbst-Konfrontation

Es ist noch nicht so lange her, seit ich mich meinem Deutschsein zugewandt habe. Über fünfzig Jahre meines Lebens habe ich ganz gut ohne diese Selbstreflexion verbracht. Aber dann war es wohl soweit.

braucht

Eines Tages saß ich in einem Workshop weit weg von Zuhause in Bangladesch. Als Co-Leiterin begleitete ich meine indischen Kolleg*innen Khurshid Anwar und Shruti Chaturvedi in einem neuen Kursformat zur politischen Bildung. Ein wichtiges Element darin ist das Konzept des „Zusammengesetzten Erbes“ (Composite Heritage). Dieses macht nachvollziehbar, wie viel Fremdes im eigenen Erbe steckt. Es öffnet überdies die Zugänge zum eigenen Erbe. Interessant für einen Vielvölkerstaat wie Indien, dachte ich. Da mir dieses Konzept in der Praxis selbst noch unbekannt war, war ich neugierig, die kommenden Kursinhalte mir mal anzuschauen.

Sicherheit

Im Workshop saßen Menschen aus verschiedensten Ländern Südasiens. Die erste Frage lautete: Was ist typisch, allgemein zugänglich, weit verbreitet in Deiner Kultur? Schreib eine Liste! Die Teilnehmer*innen schrieben und schrieben.

Auffordernd schauten Khurshid und Shruti auch mich an. Meine Ruhe war vorbei. Gänzlich unerwartet fand ich mich aus der Komfortzone meiner Moderationsrolle hinauskatapultiert in die Perspektive der Teilnehmerin:

Meine Kultur? Typisch? Allgemein zugänglich? Weit verbreitet? Ich ahnte noch nicht, dass ich mit Composite Heritage mein Deutschsein erkunden würde.

„Typisch deutsch?…“

Immerhin, meine Liste enthielt: Gartenzwerge, Bier trinken, immer meckern, eine gewisse Detailverliebtheit, vielleicht auch so Sachen wie Rentenversicherung oder Krankenversicherung.

Eine weitere Frage stand auf einmal drohend im Raum: Womit verbinde ich mich positiv?

Viel stand am Ende dieser der Übung nicht auf meinem Zettel, außer Bier trinken.

Die Kraft der Widerstände

Interessant war jedoch eine Beobachtung, die ich an mir selber während dieser Übung machte: Sie war ungemein anstrengend. Daran erkannte ich die Kraft der inneren Widerstände. Als ob jemand mit aller Gewalt eine Türe verschlossen halten will. Im Unterschied zu allen anderen Teilnehmer*innen war es für mich eben nicht normal und einfach, ein paar Dinge aufzuschreiben, die ich in meiner typisch deutschen Heimat gut fand. Zu allem, was mir einfiel, gesellte sich sofort ein großes ABER. Selten habe ich mich so unentspannt gefühlt.

Immerhin lernte ich einige meiner Ablenkungsstrategien kennen.  Schließlich hatte ich doch so einen schönen EU-Pass. Die EU hatte in diesem Jahr den Friedensnobelpreis bekommen!

und Wertschätzung

Immerhin gab mir der Workshop einen ganz ganz sicheren Raum. Die wertschätzende und zugewandte Haltung von Khurshid und Shruti, unseren Trainern, war felsenfest. Hier konnte sich alles zeigen – oder auch nicht – und das war in Ordnung so.

Kraft zur Selbstkonfrontation

Heute weiß ich, was damals geschah. Neueste Erkenntnisse der Hirnforschung belegen nämlich, welche Bedeutung Sicherheit und Wertschätzung haben, wenn es darum geht, sich mit negativen Erfahrungen zu konfrontieren. Denn es gibt im Gehirn einen Teil, der dafür zuständig ist, Unangenehmes an sich heran zu lassen. Das macht er aber wirklich nur dann, wenn er sich sicher und angenommen fühlt. Und wenn er sich angesprochen fühlt, wenn also das Ganze irgendwie interessant oder lohnenswert erscheint. Ansonsten macht er dicht.

Sinn der Selbstkonfrontation

Man kann sich natürlich fragen, warum dieser Gehirnteil sich das antut: Was soll gut daran sein, unangenehme Erfahrungen mal wirklich an sich ranzulassen? Was – außer blöden Gefühlen über sich selber –  soll daraus Gutes entstehen?2.

Ein erster sicherer Ort…

Im Rahmen dieses Workshops eröffnete sich damals dieser innere Raum, ohne dass ich diese Zusammenhänge mit der Hirnforschung bereits gekannt hätte. Ich war neugierig genug, mich überhaupt auf die Fragestellung einzulassen. Zwischen Khurshid, Shruti und mir war Vertrauen genug, um sicher darauf zu setzen, dass aus dieser Übung etwas Sinnvolles für mich herauskommen würde.

… um all den inneren Stimmen ein Ohr zu schenken

Und so hörte ich dort erst einmal meinen inneren Widerständen zu. Die sagten mir zu meiner Identität als Deutsche Sätze wie:

„Da ist nichts zu holen. Diese Identität steht in Deinem Pass, aber sonst fühlt die sich nur schlecht an.“

Überrascht nahm ich aber auch erstmals etwas Anderes wahr. Da war etwas, das sich zum Beispiel danach sehnte, diese schönen Volkslieder zu singen!

Daraufhin meldete sich sofort eine mir sehr vertraute innere Stimme und verkündete: „Wenn die Schiffe unter der Loreley durchfahren und alle das Lied von der Loreley mitsingen, dann muss ich kotzen.“ Bilder vom Bund Deutscher Mädel schossen mir durch den Kopf, verschlossen den Mund und schnürten die Kehle zu.

Gleich diese erste Übung konfrontierte mich also mit einem sehr ambivalenten kulturellen gesellschaftlichen Erbe.  Zunächst verwundert, aber dann immer nachvollziehbarer verstand ich meine Verkrampfung, sobald ich die Übungen auf mich selber bezog. In Bezug auf das, was das kulturelle Erbe meiner Gesellschaft ausmachte, fiel mir zuerst nichts ein, mit dem ich mich freiwillig verbinden wollte.

Allmählich verstand ich, warum dieses Thema über Jahrzehnte randständig geblieben war. Denn im Vergleich mit den anderen Teilnehmer*innen fühlte ich mich  in meinem gesellschaftlichen Erbe ziemlich unbehaust. Mir war immer schon klar, dass ich mich nicht davor drücken konnte – aber mich damit  freiwillig und dann auch noch positiv verbinden? Nie im Leben!

In der Rückschau weiß ich, dass es diese Sehnsucht war, die mich seitdem über Jahre hat auf der Fährte bleiben lassen. Sie tauchte hier zum ersten Mal auf, als ich mit Composite Heritage mein Deutschsein zu erkunden begann.

Zum Glück ging der Workshop noch weiter. In ihm konnte ich die so negativen Erfahrungsspuren meiner Gesellschaft in meinen eigenen Innenleben immer besser verstehen.

Mit Composite Heritage den Wandel von Identitäten verstehen

Das Interessante an dem Konzept des Composite Heritage ist, dass es den einzelnen Menschen in den Kontext seiner Gesellschaft stellt. In diesem gesellschaftlichen Kontext ist der Mensch nicht allein,  und im Austausch mit anderen bildet und verändert sich gesellschaftliches Erbe. Ein ganz normaler Vorgang also.

Composite Heritage als kontinuierlicher Austausch zwischen Menschen

Kulturelle Güter entstehen, wandeln sich und vergehen. Wie ist es mit den Dingen, die heute normal sind? Ich kann mich gut an den Kampf um die erste Jeans erinnern. Mädchen gehen nicht mit Hosen in die Schule…. Nur ein kleines banales Beispiel. Aber dieses Erbe verbindet Menschen, obwohl – oder gerade weil – sie verschieden sind und es sein dürfen ohne dabei auf- oder abgewertet zu werden.

Composite Heritage kann Menschen verbinden oder trennen

Hochspannend und sehr politisch wurde es, als wir lernten, dass mit kulturellen Gütern und Werten Politik gemacht und Macht ausgeübt wird. Hier wurde es auf einmal „ganz heiß“.

Im indischen Kontext ist zum Beispiel die Kaste ein traditionelles Gut, das bis heute die Gesellschaft und jeden einzelnen Menschen berührt – gewollt oder ungewollt. Immer schwerer leidet heute die indische Gesellschaft unter der Rangordnung, die damit verbunden ist. Sie teilt Menschen in höhere und niedere Gruppen ein. Lebenschancen werden verteilt, ohne dass ein Mensch irgendeinen Einfluss darauf hat, einfach dadurch, in welche Kaste er oder sie hineingeboren wird. Wir untersuchten außerdem Begriffe wie Glauben, Wahrheit, Gott und fanden heraus: all das gehört zu unserem gemeinsam geteilten Erbe. All das teilen Menschen mit einander. Aber nur solange, wie es unterschiedliche Deutungen geben darf.

In dem Moment, wenn „ein Gott“, „eine Wahrheit“, „ein Glaube“ ins Spiel kommt, wird aus dem verbindenden Erbe ein trennendes. Wird aus dem positiven ein negatives Composite Heritage.

Richtiges und falsches Erbe – eine Machtfrage

In dem Moment, in dem mächtige Meinungsmacher sich kultureller Güter bemächtigen, kann es gefährlich werden. Es wird gefährlich für das friedliche Miteinander und den Austausch verschiedener Menschen. Darum ist es so wichtig, welche Sprache Menschen in verantwortlichen Positionen gebrauchen. Sie stiften damit im Geiste Verbindung oder Spaltung. Im Inneren der Menschen, zu denen sie sprechen, stiften sie Beruhigung oder Aufruhr. Sie bringen Menschen dazu, mit einander auszukommen oder gegen einander in Stellung zu gehen. Mit der Sprache der Mächtigen fängt dieses Spiel an.

Mobilisierung von Identitäten durch Mächtige

Der Mechanismus, der dann aktiviert wird, ist eigentlich immer derselbe: Sobald ein Kulturgut nur einer Gruppe zugeschrieben und anderen abgesprochen wird, werden Zugehörigkeit oder Ausschluss konstruiert. „Die Juden“ sind dann „Anti-Deutsche“; Deutsche mit anderen Meinungen sind dann „Volksverräter“. Kritiker am eingefahrenen Politikbetrieb sind dann „Demokratiefeinde“. Wer sich überhaupt mit seiner deutschen Identität beschäftigt, ist „rechts“. Es geht in alle Richtungen, und immer geht es um die Deutungshoheit, wer „die eine Wahrheit“ hat in Bezug auf die „richtige Demokratie“, das „richtige Volk“, das „wahre Deutschsein“ und so weiter in alle Ewigkeit.

Kultur, Macht und ihr Missbrauch: Die Narben in der Gesellschaft

Wir verstanden diese Mechanismen immer genauer. Dabei lernten wir, hinter die Kulissen von Konflikten über Identitäten zu schauen. Es gibt immer eine Wahl: Verbindet ein bestimmtes Kulturgut Menschen oder trennt es sie? Wer sorgt dafür? Welche Interessen sind damit verbunden? Welche Macht wird dafür genutzt? Für wessen Interessen wird meine Identität in Gefahr gebracht – entweder real oder angeblich? Und: Wem nützt das?

Kultur, Macht und Missbrauch: Die Narben in den Menschen

Wir wurden auch in die eigenen Innenwelten geführt und manche berichteten von ihren Erinnerungen, zu denen sie in einer Übung geführt worden waren. Sie berichteten von den tiefen Spuren, die ihre persönlichen Erfahrungen von Zugehörigkeit und Ausschluss, von Höherrangigkeit oder Demütigung in ihnen hinterlassen hatten. Der zuvor innere und vermeintlich individuelle Konflikt fand nun aber auf einmal seinen Platz als Teil eines größeren Geschehens. Akteure, ihre Interessen und Durchsetzungsmacht traten  aus dem bisherigen Nebel sichtbar hervor. Wir lernten, wir sind Teil eines Spieles, das andere auf Kosten unserer Integrität spielen. Das ist bisweilen traurig, weil klar wird, wie viele verpasste Lebenschancen diesem Machtpoker zum Opfer gefallen sind. Das ist aber auch entlastend, weil wir lernten, Verantwortungen zu erkennen, die auf anderen Ebenen gesellschaftlicher Macht und bei anderen Akteuren liegen. Und auch hier wieder zeigte es sich, dass die in diesem bislang inneren Konflikt gebundene Energie nun frei geworden war. Frei für ein klares gesellschaftlichen Auftreten und sich Positionieren interessanterweise. So, als wäre man selber als selbstbestimmter Akteur auf der gesellschaftlichen Bühne aufgetaucht.

Sich mit Deutschsein neu verbinden wollen

Und dann kam der Punkt im Workshop, wo alle, die wollten,  etwas aus ihrem eigenen kulturellen Erbe beitragen konnten. Einfach so, just for fun. Dafür gab es einen halben Tag Zeit zur Vorbereitung. Am Nachmittag wurden wir Zeugen beeindruckender Darbietungen von Lyrik, dem Schauspiel historischer Szenen, sportlichen Spielen, Gedichten und Liedern. In ihnen verkörperte sich, was man beisteuern wollte vom  eigenen Kulturgut. Ich zaudere bis zum Schluss. Dann werfe ich mein Herz über den Zaun und singe mit zittriger Stimme das Lied von der Loreley.

Es gibt kein Zurück mehr…

Seitdem weiß ich, wie ich anfangen kann, um mir nach und nach einen Zugang zu meiner deutschen Identität zu bahnen. Dabei ist mir klar, dass meine Identität als Deutsche verschiedenste Facetten haben wird. Die Erfahrung dieses Workshops ist,  dass es auf die Dauer aus dieser Nummer für mich kein Raushalten mehr geben wird. Zu viel Energie ist hier gebunden in einem Zustand von Hin- und Hergerissen-Sein. Diese Energie will ich wiederhaben.

Fragen für die Reise

Ich habe die emotional-physische Kraft der Widerstände kennen gelernt und frage mich: Was muss hier mit aller Macht davor bewahrt werden, wahrgenommen zu werden? Was darf auf keinen Fall gespürt und gefühlt werden? Überdies habe ich ebenfalls wahrgenommen, dass es jenseits der Widerstände ein Verlangen, ein Sehnen gibt, sich zu verbinden!  Womit?!

Diese Fragen traten dann in mir eine lange Reise nach innen an. Ungelogen – erst vier Jahre später nahm ich den Faden wieder auf. In der Zwischenzeit bereitete sich eine erste grundlegende Frage in mir vor: Wer ist meine Gemeinschaft? Wer gehört zu mir?

Handwerkszeug für die Etappe 3

Überdies lernte ich ein überaus brauchbares Handwerkszeug kennen, das es mir ermöglichte, diesen inneren Dialog sehr gezielt zu führen. Mit dem Inneren Familiensystem war es möglich, mit den Widerständen und der Sehnsucht ins Gespräch zu kommen. Und all dem, was sie im Gepäck hatten.

Und so war irgendwann alles bereit für die Etappe 3: Ein erstes Ankommen in der eigenen Geschichte.

 

Die bisherigen Etappen im Überblick

Einleitung: Entspannteres Deutschsein. Ein Reisebericht in Etappen

Etappe 1: Identität und Deutschsein

Etappe 2: Deutschsein mit Composite Heritage erkunden

Etappe 3: Ankommen in der eigenen Geschichte

 

1 Khurshid Anwar, Composite Heritage for Peace, Harmony and Democracy. Training Handbook for Trainers and Activists, New Delhi 2007; kurz: Shruti Chaturvedi, Composite Heritage. Concept Note.

2 Hierzu erhellend und praktisch: Maja Storch/Julius Kuhl, Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste, 3. unveränderte, Bern 2017, S. 74f. und 249ff.

Literatur:

Khurshid Anwar, Composite Heritage for Peace, Harmony and Democracy. Training Handbook for Trainers and Activists, New Delhi 2007.

Shruti Chaturvedi, Composite Heritage. Concept Note, 2018.

Maja Storch/Julius Kuhl, Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste, 3. unveränderte, Bern 2017.